Ilona Schmiel — Intendantin der Tonhalle Zürich
Frau Schmiel, Ihr Karriereweg bis zu Ihrer Position an der Tonhalle Zürich ist im Internet nachlesbar. Würden Sie uns dennoch zu den Schlüsselmomenten Ihrer Karriere zurückführen?
Einer der wichtigsten Schlüsselmomente war die Entscheidung, überhaupt in den Bereich Kulturmanagement zu gehen. Ich hatte meine Karriere als Musikerin auf der Bühne begonnen, dann aber Schulmusik und Altphilologie studiert, um einen verlässlichen akademischen Background zu haben. Für mich stand jedoch früh fest, dass ich nicht ausschließlich unterrichten wollte. Während meines Kulturmanagement-Studiums an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ habe ich die Berliner Kulturszene intensiv genutzt und war nahezu jeden Abend auf Kulturveranstaltungen. Das halte ich für ein wichtiges Erfolgskriterium: Wer eine Leitungsfunktion in einer Kulturinstitution anstrebt, sollte sehr viel gesehen, gehört und erlebt haben. Es reicht nicht, einmal pro Woche in ein Konzert, eine Oper oder eine Kunstausstellung zu gehen. Auch ist es wichtig, sich von Anfang an, ein Netzwerk aufzubauen. Die Verbindungen aus meinem Studium pflege ich auch heute noch intensiv – sowohl die Kontakte zu Kommiliton*innen als auch zum Lehrpersonal sollte man nicht unterschätzen, denn man trifft sich später immer irgendwo wieder.
Zu Beginn meiner Karriere förderten mich über viele, viele Jahre hinweg ausschließlich Männer. Das halte ich für unerheblich, wichtig ist nur, dass gute Mentoren-Mentee-Gespanne entstehen, die zueinander passen. Meine Mentoren hatte ich bereits im Studium gefunden und stehe mit ihnen bis heute in Kontakt bezüglich bedeutender Karriereentscheidungen. Zu meinen Studienzeiten gab es noch keine Alumni- und Mentoring-Programme, dennoch suchte ich von Anfang an den Austausch mit starken Persönlichkeiten mit interessanten Biografien. Eine dieser Personen ist Prof. Dr. Klaus Siebenhaar, der den Studiengang Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ begründet hat. Hier kamen Studierende aus Ost und West, haupt- und nebenberuflich Immatrikulierte, die bereits in Kulturinstitutionen tätig waren, zusammen – das war eine wichtige Quelle an Erfahrungen und kritischen Diskursen. Da es zu dieser Zeit noch kein Internet gab, waren wir auf den persönlichen Austausch vor Ort und etliche Reisen zu den einzelnen Institutionen und Produktionen angewiesen, was ich im Nachhinein betrachtet als Vorteil sehe.
Wie ging es dann weiter?
Mein nächster Schritt war die Arbeit bei einer privaten Agentur für die „Arena di Verona“. In dieser Zeit lernte ich viel über Tourneeproduktionen. Die künstlerisch hochkarätig besetzten Produktionen mussten zielgruppengerecht und massentauglich sein. Dieser Geschäftszweig ist seit 2000 eigentlich komplett weggebrochen. Diese Tendenzen waren zu meiner Zeit dort bereits erkennbar, starke Umwälzungen in der Organisation der „Arena di Verona“ kamen hinzu. Ich war mit 200 bis 300 Italienern unterwegs auf Tournee, lernte viel über das Tourneeleben und hatte in der sehr kleinen Agentur, die für alles zuständig war, direkt einen sehr großen Verantwortungsbereich. Außerdem erfuhr ich viel über interne, gewerkschaftspolitische Fragen in Ensembles. Ich denke, auch dies ist ein wichtiger Erfolgsfaktor: Sich nicht in riesigen Strukturen zu verirren, wo man, übertrieben gesagt, die achtzehnte Assistentin ist und kaum wahrgenommen wird, sondern eher eine Tätigkeit anzustreben, in der man mit dem eigenen Wirken große Spielräume nutzen kann.
Von da aus ging ich an das Bremer Konzerthaus „Die Glocke“ und übernahm meine erste Geschäftsführungs- und Intendanzposition. Das kam für mich schneller als erwartet. Ein Freund sendete mir die Stellenanzeige eines Headhunters. Damals war es sehr selten, dass Führungspositionen von Headhuntern besetzt wurden. In der Stellenanzeige wurde ein „Geschäftsführer“, ohne weibliche Form, gesucht – ein junger, dynamischer Kulturmanager. Ich rief dort an, um zu fragen, wie jung der Kulturmanager sein dürfe, und ob sie mit einer Frau, die gerade dreißig geworden ist, auch rechnen würden. Ich hatte einen wunderbaren Headhunter, dem es etwas die Sprache verschlug. Er sagte, das sei schon ziemlich jung, und mich persönlich hätten sie nicht auf dem Radar gehabt.
Schließlich war ich mehrere Jahre ständig unterwegs im Ausland gewesen und in Deutschland nicht präsent. Nach unserem ersten Treffen hat er dafür gekämpft – dann bei den Aufsichtsratsmitgliedern – dass ich im Januar 1998 in Bremen anfangen konnte. Als die Zusage kam, dachte ich, diese „Schuhe seien zu groß“ für mich, denn mein Vorgänger war jemand, den ich sehr schätze und mit dem ich bis heute freundschaftlich verbunden bin. Wichtig ist, in so einem Moment auch „Ja“ zu sagen, und nicht plötzlich aus Selbstzweifeln heraus abzulehnen. Es ist besser, früh eine Führungsposition einzunehmen und gegebenenfalls zu scheitern, als zu spät. So hat man noch die Chance, sich weiterzuentwickeln. Ich habe wie wahnsinnig gearbeitet und mich den Herausforderungen, die ich noch nicht erlebt hatte, wie z. B. das Leiten von Aufsichtsratssitzungen, aktiv gestellt. Hier hatte ich wieder eine Person, die mich gut trainiert hat, um auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht fit für diese Stelle zu sein. Nach vier Jahren und drei Monaten trat ich von meiner Position zurück.
Wie kam es dazu?
Ich trat damals zurück, weil ich einen Betrag zur Realisierung künstlerischer Projekte nicht bekam, mit der Begründung, ich könnte diese Mittel ja zusätzlich akquirieren. In der Zwischenzeit war ich zusätzlich Geschäftsführerin des Bremer Musikfestes geworden. Sponsoren mussten sich entscheiden, ob sie zusätzliche Mittel ans Festival oder für das Konzerthaus gaben. Die Menge der Förderer konnte schon zu dem Zeitpunkt nicht beliebig erweitert werden. Daher war meine Forderung nach zusätzlichen Mitteln der öffentlichen Geldgeber begründet. Nach einem Jahr der Verhandlungen und den damit einhergehenden Konsequenzen für meine künstlerischen Anliegen – ich hatte lediglich die Möglichkeit, diese hinten an zu stellen bzw. nicht zu realisieren – bat ich um meine Vertragsauflösung, ohne eine neue Position zu haben.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich dann sechs Wochen am Stück Zeit. Am Anfang genießt man das, nach vier Wochen wurde ich jedoch unruhig. In der Branche hat mir dieser konsequente berufliche Schritt den Ruf eingebracht, für künstlerische Inhalte einzustehen und dafür zu kämpfen – und das trotz meines sehr jungen Alters. Und so erhielt ich zeitnah die Anfrage, ob ich als Intendantin des Beethovenfests in Bonn ins Rennen gehen möchte. Dort habe ich elf Jahre lang für zehn Festivaleditionen an der künstlerischen Positionierung des Festivals, dessen Internationalisierung, neuen Formaten, Partizipation von diversen Partnern, Öffnung in die Stadt Bonn hinein sowie neuen Vermarktungsstrategien unter ständiger Erweiterung von finanziellen Unterstützern im privaten wie öffentlichen Bereich gearbeitet und mich strukturellen und organisatorischen Fragen gestellt. 2012 kam dann die Anfrage aus Zürich für die Intendanz der Tonhalle-Gesellschaft – ein guter Saal, ein sehr gutes Orchester und viele interessante Rahmenbedingungen. Nach fünfzehn Jahren in Deutschland wollte ich zudem wieder ins Ausland – und bin hier definitiv in der Schweiz angekommen.
Heute läuft fast alles übers Internet. Zu Beginn Ihrer Karriere hat man noch viel mehr telefoniert, oder?
Man hat unglaublich viel telefoniert, man hat sich getroffen, man hat intensiv diskutiert. Und das gilt bis heute: Nichts ersetzt den persönlichen Kontakt. Das Live-Erlebnis, nicht nur auf der Bühne, sondern im menschlichen Kontakt ist essentiell für mich. Bei jeder Art der Zusammenarbeit geht es um Vertrauensverhältnisse, um klare Strukturen. Dafür ist es wichtig, die eigene Positionierung und Außenwirkung zu kennen, Authentizität zuzulassen, und genau zu wissen, woran man noch arbeiten muss. Auch das ist eine zentrale Erkenntnis: Richtig ankommen wird man nie, man muss stetig weiter an sich arbeiten, und zwar auf vielen Ebenen.
Gehen wir nochmal zurück nach Bremen. Wie war es für Sie, in so jungen Jahren in einer solchen Position zu sein und ein komplettes Team zu leiten?
Die Teamleitung war aus meiner Sicht kein Problem. Ich war schon immer eine Führungspersönlichkeit. Natürlich wird man mit vielen persönlichen Schicksalen konfrontiert, aber wenn Sie vorher mit 300 Leuten auf Tournee waren, sind Sie in zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen jeglicher Art erfahren und stresserprobt, auch unter den kritischen Blicken vieler Augen. Die Herausforderung war, politisch agieren zu müssen in einem Umfeld, in dem man die eigene Position und die des Hauses sehr genau reflektieren muss, inklusive der Konkurrenz vor Ort und möglicher Kooperationspartner. Es galt, Allianzen zu schaffen, das Haus zu öffnen, Veranstaltungsbelange, auch von Drittanbietern, zu koordinieren und mit dem vor allem medialen Erwartungsdruck umzugehen und einen guten Umgang mit den Medien zu finden. Hier muss man viele Entwicklungen antizipieren können und eine optimistische Grundhaltung an den Tag legen, auch wenn man nichts versprechen kann und noch nicht überall Einblicke hat. Eine positive Grundhaltung ist essentiell – haben Sie diese nicht, können Sie es lassen. Konfliktlust und ‑fähigkeit sind weitere Schlüsselqualifikationen.
In all den Jahren haben Sie bestimmt auch andere Frauen im Kulturmanagement kennen gelernt. Wie sehen Sie die Position von Frauen in dieser Branche?
In bin traurig, dass es nach meiner Zeit in Bremen keine einzige Frau mehr dort in eine leitende Position im musikalischen Bereich geschafft hat. Eine Ausnahme stellen die Museen dar – ein fantastisches Zeugnis für die Vielgestaltigkeit der Museumslandschaft. Bei Konzerthaus- oder Orchesterintendanzen sind Frauen weltweit eine rare Ausnahme, bis heute, und das stimmt mich nachdenklich. Auf der anderen Seite erlebe ich immer wieder bei Frauen, die für solche Positionen vorgeschlagen werden, dass sie sich noch nicht bereit dafür fühlen. „Soweit bin ich noch nicht“ – damit darf man sich nicht zufriedengeben. Wenn man in eine Führungsposition will, sollte man es konsequent ausprobieren.
„So weit bin ich noch nicht“ – diesen Satz hören Sie mehr von Frauen als von Männern?
Absolut. Ich kenne keinen Mann, der mir diesen Satz jemals gesagt hat. Männer schauen schneller danach, was ein nächster sinnvoller Karriereschritt für sie sein könnte. Bei Frauen dauert das zum Teil wahnsinnig lang, viele machen lieber noch eine weitere Ausbildung oder Qualifikationsmaßnahme. Ich sage denen: Die 18. Fortbildung bringt es nicht – Ihr müsst Eure Ziele durchsetzen. In einer Bewerbungssituation muss man die Kraft haben, sein Gegenüber von der eigenen Willensstärke zu überzeugen, auch davon, dass man bereit ist, Opfer einzugehen, also unglaublich viel Zeit zu investieren. Man muss schon vieles erst einmal hinten anstellen, das muss man wollen. Und eine Chance ergreifen, wenn sie kommt.
Gibt es weitere Unterschiede, wie Männer und Frauen Karriere machen?
Für mich gibt es im beruflichen Umfeld grundsätzlich überhaupt keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen. Jeder muss einen authentischen Führungsstil für sich selbst finden. Ein Unterschied ist jedoch, dass Frauen weniger Vorbilder haben, mit denen sie sich auseinandersetzen können. Ich hoffe, dass sich das endlich ändert. Dennoch sind die Karrierewege der erfolgreichen Frauen, die ich kenne, alle sehr ähnlich. Sie waren immer irgendwo die Ersten oder Zweiten, haben sich gut vernetzt, haben „geackert“. Sie haben reüssiert und viel für den Erfolg in Kauf genommen, aber sie wollten diese Position auch unbedingt und lieben es zu entscheiden. Ich glaube, es gibt eine grundsätzliche Frage, die ich auch gern Schülern stelle: Können Sie sich vorstellen, Chef zu werden? Ich kann Ihnen relativ früh sagen, ob jemand mit 15, 16, 17 Jahren Führungseigenschaften hat oder nicht. Man wird nicht plötzlich mit 30 zur Führungskraft. Wenn man dagegen schon immer jemand war, der in Gruppenpräsentationen vorne dran war, der Ideengeber war oder gern quer und innovativ gedacht hat – jemand, der lieber ausprobiert, als allen zu gefallen – dann ist das ein gutes Zeichen. Es gibt sicher unterschiedliche Wege, seine Karriere aufzubauen, so wie es auch verschiedene Biografien gibt – die Kriterien sind aber letztlich dieselben.
Es kommt also am meisten auf den Persönlichkeitstyp an?
Genau. Man braucht außerdem Menschen in seinem Umfeld, die einem sagen, wie man Themen organisiert oder bestimmte Strukturen umsetzt, die einen aber auch auf die eigenen Qualitäten aufmerksam machen.
Gibt es etwas, was Sie gerne schon am Anfang Ihrer Laufbahn gewusst hätten? Etwas, was Sie aus heutiger Sicht anders angehen würden?
Das ist schwer zu sagen. Im Nachhinein betrachtet hatte jede Entscheidung ihren Sinn. Für mich war es wichtig zu gehen, wenn ich merkte, dass ich mich in einer Position nicht weiterentwickeln kann. Aus heutiger Perspektive würde ich wohl ähnlich handeln. Allerdings sind die Bedingungen heute natürlich andere. Vielleicht wäre ich jetzt nicht in Zürich, sondern woanders. Offenheit, Neugier und der Drang nach persönlicher Weiterentwicklung – das sind wichtige Grundlagen, um an unterschiedlichen Stationen erfolgreich wirken zu können. Je mehr Erfahrung man hat, desto besser kann man sich einbringen, Neues, Besonderes oder Schräges wagen, neue Menschen erreichen oder neue Künstler finden. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass man keine Karriere im eigentlichen Sinne plant, sondern Optionen bekommt. Entscheidend ist, diese Chancen zu ergreifen.
Selbst, wenn man ein Team hat, ist man ja am Ende immer noch diejenige, die ganz oben ist und das Sagen hat…
Ja, so ist es. Man muss entscheidungsfreudig, aber auch ein guter Teamplayer sein. Einen komplett patriarchalischen Führungsstil gibt es heute nicht mehr, und das ist auch gut so.
Was raten Sie Berufsanfängerinnen darüber hinaus?
Sie sollten sich mit Führungspersonen viel früher auseinandersetzen, als es die meisten tun. Im Prinzip sollten sie sich am Studienanfang überlegen, wen sie kennenlernen möchten, und diese Leute gezielt ansprechen, zum Beispiel bei Kongressen oder in der Institution selbst. Auch auf mittlerer Führungsebene gibt es spannende Persönlichkeiten, es muss nicht immer gleich die Intendanz sein. Auf diese Weise lernt man die Entscheidungskriterien kennen, um in eine solche Position zu gelangen und kann eigene Fragestellungen mit Personen in höheren Ebenen diskutieren. Man lernt viel anhand anderer Lebenswege.
Sie wussten schon früh, wohin Sie wollten. So geht es nicht jedem, zudem hat man ja heutzutage nicht mehr so viel Zeit, sich auszuprobieren…
Sie haben eigentlich alle Zeit der Welt! Ein häufiger Fehler bei Frauen ist, alles systematisch Step by Step angehen zu wollen – und einen Plan zu verfolgen, bei dem eine Leitungsposition irgendwann mit 40 vorgesehen ist. Dieses Modell stelle ich infrage. Es gibt Side-Steps, beispielsweise kleine Festivals, die Führungspersonen suchen, oder Orte, die auf den ersten Blick nicht super-attraktiv erscheinen, aber an denen man etwas bewegen kann. Ich habe damals die Entscheidung getroffen, aus Berlin wegzugehen, auch wenn es eine absolut fantastische Stadt ist. Zum Glück. Ich weiß, dass manche meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen bis heute in Berlin leben und tolle Karrieren gemacht haben. Ich will das also gar nicht werten. Für mich erschien es jedoch als nahezu unmöglich, mich in Berlin zu positionieren. Wie sollte das gehen in diesem Heer von Menschen, die alle in der Musikwelt etwas bewegen wollten? Für mich war es deshalb die richtige Entscheidung, die „bekannte“ Scholle zu verlassen. Das war mühevoll und kostete Energie, es machte zeitweise einsam. Aber es hat mich geprägt und vor allen Dingen gestärkt.
Photo credit: Paolo Dutto